Grundsätzliches und Allgemeines zur Prophetie

Die Schriftprophetie um fasst einen Zeitraum von mehr als einem halben Jahrtausend. Zu allen wichtigen Ereignissen dieser Zeit hatten sie etwas zu sagen. Man kann also ihre Reden nicht von dem Zeitgeschehen ablösen. Denn sie verkündeten das Handeln Gottes in der Geschichte. Sie zogen sich angesichts des oft genug Bedrohlichen nicht auf sich selbst, in ihr Inneres zurück, m.a.W.: sie waren keine Mystiker. Wir haben freilich einige Schwierigkeiten, ihre Botschaften deutlich zu erfassen, weil das, was sie an Predigten hinterlassen haben, von Späteren für diese späteren Zeiten fortgeschrieben worden ist und man immer wieder auf die Schwierigkeit stößt, die Fortschreibungen von den originalen Predigten zu unterscheiden. Eins steht fest: sie verkünden den Willen Gottes in doppelter Hinsicht, nämlich einerseits dasjenige, was Gott zu tun willens ist, andererseits seinen fordernden Willen an sein Volk, also was sein Volk nach seinem Willen zu tun hat.

Wenn wir die vorexilischen Propheten ansehen, dann scheint es so, daß sie in dem Augenblick auftreten, in dem Gott die Katastrophe für sein Volk unwiderruflich beschlossen hat. Alles das, was sie an Sünden des Volkes und seiner Führer aufzählen, dient demnach nicht der Aufforderung, sich zu ändern, weil ohnehin nichts mehr zu ändern ist. Es ist zu spät. Das Volk soll aber in der Katastrophe Gott recht geben und die Schuld dafür nicht bei anderen oder gar Gott selbst suchen. Dennoch gibt es auch Heilsverheißungen. Von der älteren Forschung wurden diese Verheißungen samt und sonders den vorexilischen Propheten ab- und späteren Fortschreibungen zugeschrieben. Das sieht man heute anders. Vielmehr gelten wenigstens manche dieser Verheißungen dem Heil, das nach der Katastrophe kommen soll.

Die Heilserwartungen, die sich da artikulierten, blieben zum großen Teil unerfüllt. Daran zeigt sich – ganz grundsätzlich gesehen – , daß der Tanak offen blieb für eine Zukunft, die über ihn selbst hinauswies.
Die Verheißungen des Heils treten bei den exilischen und nachexilischen Propheten in den Vordergrund. Die Juden sehen sich noch mehr als vor dem Exil als Spielball der jeweils herrschenden Großmacht; sie haben kein eigenes Staatswesen mehr und werden darüberhinaus immer wieder von Nachbarvölkern bedroht. Innerhalb des Judentums macht sich Resignation breit, gegen welche die nachexilische Propheten anpredigen, und zwar mit Verheißungen, die an den Tun-Ergehen-Zusammenhang gebunden sind. D.h. das Heil kommt, wenn sich das Volk anders verhält, Buße tut. So erklären sich die Bußliturgien der nachexilischen Zeit.

Da entsteht die Apokalyptik. Es ist unübersehbar, daß sie sich auch aus der Prophetie entwickelt hat. Man spricht bei den späten nachexilischen Propheten von einer Protoapokalyptik , also einer Vorstufe zur später voll ausgebildeten Apokalyptik, die uns bei Daniel begegnen wird. Doch schon die Protoapokalyptik verkündet die Vernichtung der Israel feindlich gesinnten, götzendienerischen Völker in einem großen Weltgericht in Gestalt der letzten Schlacht der Weltgeschichte, die Gott für sein Volk schlagen wird, und einem glückseligen Leben des Gottesvolkes, das nun seinem Gott ungeteilt dienen wird.

Die Fortschreibungen, die uns den Zugang zu den ursprünglichen Worten der Propheten so sehr erschweren, daß diese oft garnicht mehr „herauspräpariert“ werden können, zeigen aber zugleich die Lebendigkeit der prophetischen Überlieferung. So ist kaum mit einem anderen Werk der Literatur des Altertums umgegangen worden. Gewiss, man hat vereinzelte Erweiterungen in den homerischen Epen entdeckt, vielleicht auch im Nibelungenlied, das aber eine eigenständige Dichtung ist auf Grund einer Vorlage, dem Sigurdlied, das daneben erhalten geblieben ist. Vereinzelte Zusätze zu antiken Schriften sind aber doch etwas anderes als diese Fortschreibungen, durch man die alten Prophetien immer wieder auf neue, veränderte Situationen anwandte. Die alttestamentliche Exegese ist damit befasst, alles dies, nämlich den Grundbestand und die Fortschreibungen, voneinander zu unterscheiden und zeitlich einzuordnen – eine Arbeit die nie zu einem endgültigen Abschluss kommen wird.

Wesentliche Voraussetzung ist für die vorderen wie für die hinteren Propheten die Einsicht in das Offenbarungshandeln Gottes in der Geschichte, und die Fortschreibungen zeigen, daß man sich diesem Handeln Gottes immer wieder ausgesetzt sah, daß Gott auch in den Katastrophen sein Volk nicht losließ. Indem man die prophetischen Schriften bewahrte und fortschrieb, hielt man auch das Versagen, die Schuld des Volkes fest, bewahrte es für die künftigen Geschlechter.
Das Zwölf-Prophetenbuch (Dodekapropheton) ist als eine Einheit zu betrachten, nicht nur deshalb, weil diese „kleinen Propheten“ zusammen nicht mehr Umfang haben als Jesaja alleine. Es ist vielmehr deutlich, daß in der Zusammenstellung und Bearbeitung planvoll vorgegangen worden ist. Es gibt gute Gründe für die Annahme, daß am Anfang der Sammlung ein Vier-Prophetenbuch stand, welches die vorexilischen kleinen Propheten umfaßte, nämlich Hosea, Joel, Amos und Zephanja. Diese Sammlung ist spätestens im Exil zusammengestellt worden. Später ist sie um die übrigen acht erweitert worden. Das Zwölf-Prophetenbuch setzt Jesus Sirach, der um 180 v. Chr. schrieb, voraus. Es handelt sich dabei nicht nur um eine bloße Zusammenstellung von zwölf einzelnen Schriften, sondern zugleich um eine Bearbeitung, durch welche die einzelnen Bücher mit einem Verweissystem auf einander bezogen werden. Zweck dieser Sammlung wie überhaupt der Aufbewahrung und Bearbeitung der prophetischen Schriften ist der Ruf zur Umkehr