Korinth war seit 27 v.Chr. Sitz des Prokonsuls der römischen Provinz Achaja. Die nahe am Meer gelegene Stadt besaß zwei Häfen: Kenchreae und Lechnäon. Durch ihre Lage war die Stadt offen für Einflüsse verschiedener Länder und Kulturen. Das hat sich natürlich auch auf die Christengemeinde in Korinth ausgewirkt, welche durch Paulus gegründet wurde, als er von Athen aus hier her kam. Um einiges über den Aufenthalt des Paulus in dieser Stadt zu erfahren, sind wir auch auf Angaben der Apostelgeschichte angewiesen, die freilich mit Vorsicht zu behandeln sind. Man findet sie Apgesch 18,1 – 18. Demnach hat sich Paulus etwa anderthalb Jahre in Korinth aufgehalten. Obwohl er als Apostel Anspruch auf Unterhalt durch die Gemeinde hatte, hat er seinen Lebensunterhalt durch Arbeit in seinem erlernten Beruf als Zeltmacher verdienst (4,12; 9,1 – 18). In unserm Brief nennt Paulus 1,11. 14. 16 und Kapitel 16,15. 17 einige Namen Korinthischer Christen. Dass der überwiegende Teil der Gemeindeglieder zur Unterschicht gehörte, ergibt sich aus 1,26. Es muss in ihr aber auch Leute gegeben haben, die zumindest materiell besser gestellt waren, vermutlich selbständige Handwerker und Händler. Das jedenfalls dürfte der Hintergrund der Auseinandersetzung sein, mit der sich Paulus in Kapitel 11 befasst.
Nachdem Paulus aus Korinth nach Ephesus abgereist war, erschien dort der Alexandrinische Judenchrist Apollos, der mit der in seiner Heimatstadt gepflegten allegorischen Schriftauslegung und einer anscheinend glänzenden Rednergabe die Korinther offensichtlich beeindruckt hat. Das Auftreten des Apollos und andere Einflüsse haben zu Parteiungen in der Gemeinde geführt, auf die Paulus 1,10 – 17 eingeht. Auf das Wirken des Apollos geht er in Kapitel 3 noch ausführlich ein, gibt ihm jedenfalls nicht die Schuld an den Parteiungen.
Dass Paulus hier auf die Weisheit, sofia (spr.sophía) eingeht(1,18 – 2,16) dürfte mit dem Wirken des Apollos zusammenhängen, in dessen Predigt die Weisheit eine wichtige Rolle gespielt haben könnte. Paulus setzt aber voraus, dass die Korinther diese Rede von der Weisheit missverstanden haben. Jedenfalls ist mit der Weisheit, die Paulus hier sorgsam begrenzt, nicht Wissenschaft oder Gelehrsamkeit gemeint, sondern eine religiöse Größe, eine Hypostase Gottes, die es zu erstreben gilt. In der Gnosis wird die Weisheit eine hervorragende Stelle einnehmen. Es ist ja auch versucht worden, die Auseinandersetzungen, die Paulus mit der Korinthischen Gemeinde zu führen hatte, auf eine Auseinandersetzung mit der Gnosis zurückzuführen[1]. Dazu reichen aber die Aussagen im Brief nicht, zumal sie sich auf andere Weise einfacher erklären lassen. Jedenfalls ist die Weisheit nicht nur in der Gnosis eine zentrale Größe.
Das lockere Leben, das man in Korinth zu führen gewohnt war, hat vor der Gemeinde nicht Halt gemacht. Jedenfalls befasst sich Paulus in diesem Brief mit Fällen von Unzucht (Kapitel 5) und im Zusammenhang damit auch mit der Frage der Ehe und der Ehescheidung, nämlich der Scheidung in dem Fall, dass nur ein Ehepartner Christ ist, der andere nicht (Kapitel 7).
Eine große Debatte muss wohl in Korinth darüber geführt worden sein, ob man das Fleisch, das von heidnischen Opfern stammte und dann auf dem Markt feilgeboten wurde, essen dürfe. Die Frage ging aber weiter, nämlich, ob man an Mahlzeiten teilnehmen dürfe, die mit einem Opfermahl verbunden sind (Kapitel 5). Diese Frage führt dann zur Erörterung der Freiheit und des Gewissens, nämlich des Gewissens des Bruders (Kapitel 9 und 10), wobei Paulus in 10,6 einen Einblick in sein Verständnis des Umgangs mit dem Alten testament gewährt.
Die Erörterung über das Abendmahl in Kapitel 11 lässt den Leser nicht nur in die soziale Zusammensetzung der Gemeinde blicken, sondern erschießt uns auch den sozialen Aspekt des Herrenmahls. Möglicherweise ist das Ärgernis, das bei der Korinthischen Wahlfeier aufgetreten war, auf ein mysterienhaftes Verständnis des Herrenmahls zurückzuführen.
Ein im östlichen Mittelmeerraum verbreitetes Phänomen war das Zungenreden, die Glossolalie, die auch in der Christengemeinde von Korinth Eingang gefunden hatte. In der Ekstase wurden unverständliche reden ausgestoßen, wohl einzelne Wörter der üblichen Sprache, aber ohne erkennbaren Sinn-Zusammenhang. Diese Glossolalie galt alsvom heiligen Geist eingegebene Sprache der Engel. Die sie übten hielten sich für Träger des Geistes, eigentliche Christen, während denjenigen, bei denen diese Erscheinung nicht auftrat, der Geist abgesprochen wurde. Dem widerspricht Paulus, der in den Kapiteln 12 und 14 von der Vielzahl der Geistesgabe in der Gemeinde spricht, und diese Gaben dienen dem Aufbau der Gemeinde. Deshalb ist die verständliche Sprache für sie Voraussetzung, während die Glossolalie, wenn sie geübt wird, nur der persönlichen, privaten Frömmigkeit des Einzelnen dienen kann.
Im 15.Kapitel setzt sich Paulus mit Leuten auseinander, welche die künftige Auferstehung bestreiten. Wahrscheinlich hat er es da nicht mit Rationalisten zu tun, sondern mit Spiritualisten, für welche die Auferstehung durch den Akt der Bekehrung bereits geschehen ist und die sich so bereits jetzt im Reich der Vollkommenheit befinden. Dergleichen gibt es auch in der Gnosis, aber eben nicht nur in ihr. Vielmehr hängt diese Vorstellung der gegenwärtigen Vollkommenheit mit der Glossolalie zusammen; man spricht ja bereits die Sprache der Engel.
Ob das 13,Kapitel ursprünglich in diesen Zusammenhang, in dem jetzt steht, gehört, ist strittig. Es gibt ja ohnehin Vermutungen, dass es sich beim I.Korintherbrief um eine Briefkompilation handelt, also um eine Zusammenstellung von Teilen mehrerer Briefe, die für den Gebrauch der gottesdienstlichen Lesung vorgenommen worden ist. Diese Kompilation zum Zweck der gottesdienstlichen Lesung sollte dann für alle Gemeinden gelten. Darauf weist auch die Wendung in 1,2:“samt allen, die an jedem Ort den Namen ihres und unsres Herrn Jesus Christos anrufen,“ Dieser Passus ist nicht auf Paulus zurückzuführen, sondern auf den Kompilator, der damit seiner Kompilation eine gesamtkirchliche Bedeutung zuschreibt. Tatsächlich sind Brüche und Widersprüche in diesem Brief zu beobachten. Allerdings gehen die Vorschläge, wie diese Kompilation zusammengesetzt ist[2], sehr weit auseinander[3]. Als ein Beispiel dafür, das zudem leichter als die anderen Vorschläge zu überblicken ist, sei hier die Analyse von Schenke-Fischer[4] angeführt, wobei anzumerken ist, dass die einzelnen Teil als Fragmente von Briefen, nie als ganze Briefe anzusehen sind:
1.Brief: 6,12 – 20; 9,24 – 10,22; 11,2 – 34; 13; 15 (auch ale Brief A bezeichnet)
2.Brief: 1,1 – 6,11; 7; 8; 9,1 – 23; 10,23 – 11,1; 12; 14; 16 (auch als Brief B bezeichnet)
[1] Walter Schmithals, Die Gnosis in Korinth, 2. Auflage, Göttingen 1965
[2] Beispielsweise Walter Schmithals, Die Korintherbrief als Briefsammlung, ZNW 64/ 1973 Seite 263 – 288;
Wolfgang Schenk, Der 1.Korintherbrief als Briefsammlung, ZNW 60/ 1969 Seite 219 – 243
[3] Dazu die Übersicht bei Hans-Martin Schenke – Karl Martin Fischer, Einleitung in die Schriften des Neuen Testaments I, Berlin 1978 Seite 99
[4] Hans-Martin Schenke – Karl Martin Fischer, Einleitung in die Schriften des Neuen Testaments, Berlin 1978, Seite 99