Wir sagen „die Bibel“, in der Einzahl ,und haben ja auch ein Buch vor uns, das wir so nennen. Der Ausdruck „die Bibel“ geht aber auf den griechischen Ausdruck τα βιβλια (spr.: ta biblía) zurück, und das heißt „die Bücher“. Schon ein Blick auf das Inhaltsverzeichnis zeigt, daß das, was wir „die Bibel“ nennen, tatsächlich eine Sammlung vieler Bücher ist. Da man im Mittelalter in der westlichen Christenheit zwar lateinisch zu sprechen pflegte, aber kaum einer des Griechischen kundig war, hielt man das „a“ am Ende von biblia für die weibliche Einzahl und sagte folglich „die Bibel“. Wir werden aber darauf zu achten haben, daß es sich um viele Bücher handelt, die in einem Beziehungsgeflecht stehen, das wir zu erkennen versuchen wollen, soweit es uns möglich ist.
Bekanntlich besteht die Bibel aus zwei Teilen: dem Alten oder Ersten und dem Neuen Testament. Das Werden dieser beiden Teile ist so unterschiedlich, daß wir es getrennt behandeln müssen. Wir werden mit dem Alten oder Ersten Testament beginnen. Die Frage, ob man Altes oder Erstes Testament sagen soll, hat allmählich geradezu weltanschaulichen Charakter angenommen. Um dem zu entgehen, wollen wir die jüdische Bezeichnung für diesen Teil der Bibel verwenden. Juden sprechen vom Tanak. Wir werden noch darauf kommen, wie es zu dieser Bezeichnung gekommen ist.
Es ist zweckmäßiger von dem auszugehen, was am sichersten ist, und das ist dasjenige, was uns heute vorliegt, also der heutige Tanak und das heutige Neue Testament. Von diesem heutigen Bestand aus werden wird sein Werden sozusagen rückwärts verfolgen. Dabei wird sich herausstellen, daß die Geschichte umso unsicherer, für die Fachwelt umso strittiger wird, je weiter wir zurückfragen. Würden wir mit den jeweiligen Anfängen beginnen, dann hätten wir uns zunächst mit umstrittenen Hypothesen zu befassen. Da das wenig günstig ist, werden wir bei beiden Testamenten den umgekehrten Weg beschreiten. Überhaupt konzentriert sich die Bibelwissenschaft, wie die Literaturwissenschaft überhaupt, heutzutage zunehmend darauf, den vorliegenden Textbestand mit den uns jetzt zur Verfügung stehenden Mitteln der Textsemantik zu entschlüsseln, wohl wissend, daß er das Endprodukt eines längeren Überlieferungsprozesses ist, als diesem Überlieferungsprozeß, den Quellen des jetzigen Textes also nachzuspüren, worin die frühere Forschung ihre Hauptaufgabe sah.
Wir müssen uns darüber klar sein, daß es sich bei allem, was ich Ihnen vortrage, um Theorie handelt. Deshalb ist eine kurze Besinnung darüber nötig, was eine Theorie ist, was sie zu leisten vermag und was nicht. Ausgangspunkt sind Beobachtungen. Eine Theorie besteht darin, daß aus einer möglichst großen Zahl von Beobachtungen ein sinnvoller Zusammenhang hergestellt wird. Das gilt für alle Wissenschaften, für die Astronomie, für die Medizin, für die Bibelwissenschaften usw.. Mit dieser Theorie wird gearbeitet, und dabei stellen sich meistens Beobachtungen heraus, die in die betreffende Theorie nicht passen. Dann wird die Theorie umgebaut oder – in seltenen Fällen – gänzlich verworfen. Meistens werden Bausteine derjenigen Theorie, die sich als mangelhaft erwiesen hat, umgestellt oder geändert. Keine Theorie kann die endgültige Wahrheit enthalten. Eine Theorie ist immer nur ein Hilfsmittel, das weiteres Suchen, Forschen und Nachdenken möglich macht. Sehr oft stehen mehrere Theorien in derselben Sache nebeneinander oder gegeneinander. Das Für und Wider ist abzuwägen. Dieser Disput gehört zu jeder Wissenschaft. Es ist deshalb töricht, Theoriebildungen in der Wissenschaft mit dem Bemerken abzulehnen, daß sich ja die Fachleute nicht einig seien. Das wird sehr oft gegen die Bibelwissenschaften vorgebracht. Ich werde Sie wenigstens ansatzweise mit unterschiedlichen Erklärungen, also Theorien hinsichtlich der Entstehung der Bibel bekannt machen. Eine Theorie ist also immer nur ein Modell mit dem man zum weiteren Forschen umgehen kann.
Zu bedenken ist weiterhin, daß wir es mit Literatur zu tun haben, nicht mit unmittelbarer Geschichte. Es gibt überhaupt keinen unmittelbaren Zugriff zur Geschichte, zu Geschehen in der Vergangenheit. Zugang haben wir dazu nur durch Literatur und andere Künste im weitesten Sinne, wie Malerei usw. Dabei gelangt man nie zu den Ereignissen der Vergangenheit selbst, sondern bestenfalls zu den unmittelbaren Augen- und Ohrenzeugen. Jeder von ihnen wertet das, was er sieht und hört, bewusst oder unbewusst. Er ordnet und wertet es gemäß seinen Voraussetzungen. Es gibt keine ungedeuteten Berichte, mag man noch so viel von vermeintlich objektiver Geschichtsschreibung reden. Damit muß jeder rechnen, der Quellen erster Ordnung oder sekundäre Darstellungen liest. So ist auch biblische Geschichte, wie sie uns in der heiligen Schrift entgegentritt ,immer gedeutete Geschichte, egal ob von unmittelbaren Zeugen oder von solchen dargestellt, welche mit ihren Darstellungen auf dem fußen, was die unmittelbaren Zeugen hinterlassen haben.