Einleitung

Unter dem Namen „Pastoralbriefe” fasst man die beiden Briefe an Timotheos und den Brief an Titus zusammen, weil sie sich in besonderer Weise mit den „Hirten” („Pastor” lateinisch „Hirte”) befassen, welche die Gemeinden hüten, also mit den Amtsträgern. Dass diese Briefe nicht vom Apostel Paulus geschrieben worden sein können ist die nahezu einmütige Meinung der Fachwelt. Ihre Entstehung wird frühestens auf die Zeit um 100 oder später angenommen.

Es geht in diesen Briefen nicht nur um die Ämter in der Gemeinde, sondern auch darum, die Gemeinden vor gnostischer Überfremdung zu bewahren. Das Wort Gnosis (γνωσισ) zu Deutsch „Erkenntnis” hatte in der frühesten einen guten Klang. Eine außerhalb der Christenheit entstandene religiöse und quasi philosophische Denkbewegung bediente sich aber dieses Wortes ale Selbstbezeichnung und bot der Christenheit ihre streng dualistische und mythologische Weltsicht als geistiges Fundament samt einer entsprechenden Lebensführung an. Ihr Grundgedanke war, dass die sinnlichwahrnehmbare Welt einschließlich des Leibes der Menschen nicht vom wahren, höchsten Gott geschaffen worden sei, sondern unter Vermittlung verschiedener Mächte (Genealogien I.Tim 1,4; Tit 3,9) von einem andern Wesen, welches den in jedem Menschen ruhenden göttlichen Seelenfunken in dem Kerker des Leibes gefangen hält. Doch der vom höchsten Gott entsandte Erlöser, der wie ein Mensch aussieht, aber nur scheinbar ein Mensch ist, teilt den Menschen die Erkenntnis, eben die Gnosis ( I.Tim 6,20; Tit 1,16), von der göttlichen Herkunft ihres Seelenfunkens als ihres wahren Wesens mit, und dank dieser Gnosis steigen die Erlösten empor zu ihrer Heimat, dem höchsten Gott. Dies ist in sehr vereinfachter Form, der mit komplizierten Mythen (I.Tim 1,4; 4,7; II.Tim 4,4; Tit 1,14) ausgestattete Grundgedanke der Gnosis. Von ihr gab es eine ganze Reihe unterschiedlicher Schulen. Die Pastoralbriefe setzen sich mit einer jüdischen oder judenchristlichen Richtung (Tit 1,10) der Gnosis auseinander, denn sie beruft sich auf das Alte Testament (I.Tim 1,7: Tit 1,14; 3,9), was andere gnostische Schulen ablehnten. Auch mit der Auferstehung konnten die Gnostiker nichts anfangen. Sie wurde von ihnen spiritualisiert (II.Tim 2,18). Dieser weltfeindlichen Gesinnung entsprach eine strenge Askese (I.Tim 4,3; Tit 1,14 – 15). Männer wie Alexander (I.Tim 1,20; II.4,14), Hymenaios (I.Tim 1,20; II.2,17), Philetos (II.Tim 2,17), Phygelos (II.Tim 1,15), Hermogenes (II.Tim 1,15) und vielleicht auch Demas (II.Tim 4,10) sind Vertreter dieser Gnosis, die vor allem bei Frauen Zustimmung fand (II.Tim 3,6).

Jedenfalls sah ein für uns namenloser Christ hier die Gefahr der Unterwanderung der Gemeinden durch eine Bewegung, welche wesentliche Inhalte christlicher Botschaft und Lebensführung zu zerstören im Begriff war. Er fragte sich, was Paulus dazu sagen und schreiben würde, wenn er es noch erlebte. So schrieb er diese drei Briefe in der Meinung, dass Paulus der gnostischen Gefahr in der Weise entgegen treten würde, wie er in den Briefen argumentierte. Allerdings argumentierte er gar nicht, so wie es Paulus in seinen (authentischen) Briefen zu tun pflegte, sondern er lehnte einfach ab. Da sich die Gnosis in der Gemeinde, zumindest in dieser starken Weise, erst in nachpaulinischer Zeit bemerkbar gemacht hat, lässt der Verfasser den Apostel diese Gefahr voraussagen, allerdings nicht durchgehend, sondern manchmal auch gegenwärtige Erscheinung darstellen.

In den Zusammenhang der Auseinandersetzung mit der Gnosis werden auch die Ämter gehören, Da ist zunächst der επισκοποσ (spr. epískopos), „Aufseher”, deutsches Lehnwort „Bischof”. Er kommt nur in der Einzahl vor (I.Tim 3,1 – 7; Tit 1,7 –9) dann der πρεσβυτεροσ (spr. presb´yteros”) „Ältester”, auch mit dem griechischen und eingedeutschten Wort „Presbyter” bezeichnet, der in der Mehrzahl erscheint (I.Tim 4,15; 5,17 –19; Tit 1,5 – 6)) und der διακονοσ (spr. diákonos), „Diener” (I.Tim 3,8 – 13). Zu nennen sind noch die Witwen, die auch eine Funktion in der Gemeinde haben (I.Tim 5,3 – 16). Schwierig ist die Zuordnung des Bischofs zu den Presbytern zu bestimmen. Wahrscheinlich hat der Verfasser eine ihm vorliegende Kirchenordnung übernommen und in den I.Timorheus- und den Titusbrief einbezogen[01]. Diese Quellenstücke lassen sich von dem, was der Verfasser sonst noch geschrieben hat, nicht genau abgrenzen. Es gibt z.B. Ermahnungen (Paränesen),die zwar auch zu Kirchenordnungen gehört haben können, wie Beispiele anderer Kirchenordnungen zeigen, sie können aber ebenso gut vom Verfasser stammen. Auch ist nicht sicher, dass die liturgischen Stücke zu den Kirchenordnungen gehört haben oder ob sie der Verfasser anderen Vorlagen entnommen hat. Immerhin kann man in I.Tim 6,11 – 16 ein Stück einer Ordinationshandlung sehen[02].

Freilich müsste geklärt werden, was in den Pastoralbriefen unter „Ordination” zu verstehen ist[03]. Zunächst einmal setzt der Briefschreiber voraus, dass Timotheos durch Handauflegung ein Amt übertragen worden sei und ihm dabei Gandengaben vermittelt worden seien. II.Tim 1,6 hat Paulus die Hände aufgelegt, I.Tim 4,14 war es das Presbyterium. 5,22 legt die Vermutung nahe, dass Timotheos seinerseits durch Handauflegung Amtsträger einzusetzen hat. I.Tim 3,10; Tit 1,5 ist von der Einsetzung von Diakonen die Rede, ohne dass die Handauflegung erwähnt wird. Man kann aber voraussetzen, dass sie vorgenommen wurde[04]. Welche Funktion, welches „Amt” der Verfasser dem Timotheos und wohl auch dem Titus in dieser sich abzeichnenden Hierarchie zuschreibt, wird nicht gesagt. Vielleicht ist er als Apostelschüler ein „Evangelist” – im Sinne des Briefschreibers[05]. Diesen Fragen ist hier im Rahmen der Einleitung nicht nachzugehen. Sie sind aber sehr wichtig für die biblische Grundlegung der ökumenischen Debatte um das kirchliche Amt, die in den ökumenischen Bemühungen eine Schlüsselstellung einnimmt.

Der Verfasser bietet auch eine Reihe von Aussagen, die sein „Paulus” über sich selbst macht. Einiges davon ist den Paulusbriefen entnommen, aber nicht alles. Er hat sie jedenfalls gekannt. Die Apostelgeschichte hat er aber nicht benutzt, welche ihrerseits keine Kenntnis der Paulusbriefe voraussetzt. Der Verfasser muss aber noch andere mehr oder weniger legendäre Nachrichten über Paulus gekannt und verwendet haben. Für den Verfasser verliefen die Reisen des Apostels so: Kreta (Tit 1,5)> Ephesus (I.Tim 1,3)> Milet (II.Tim 4,20)> Troas Alexandria (II 4,13)> Makedonien (I.Tim 1,3)> Korinth (II.Tim 4,20)> Nikopolis (in Epirus?) (Tit 3,12)> Rom ( II.Tim 1,17)[06].

Das Ethos, das in den Paränesen demjenigen der Gnostiker entgegen gesetzt wird, berührt sich eng mit dem der Stoa. Es ist keine Sondermoral, sondern das Ideal weltlichen Ethos. Die Pastoralbriefe entwerfen das Bild der bürgerlichen Familie, wie die Paränesen für die Amtsträger jahrhundertelang das Bild des evangelischen Pfarrers und seines Hauses geprägt haben.

Übersetzung

Ausgangstext der Übersetzung ist Nestle-Aland, Novum Testamentum Graece, 27.Auflage, Deutsche Bibelgesellschaft Stuttgart

[01] Hans-Walter Bartsch, Die Anfänge urchristlicher Rechtsbildungen, Studien zu den Pastoralbriefen, Theologische Forschung 34, Hamburg 1964 und Hans-Martin Schenke, Karl Martin Fischer, Einleitung in die Schriften des Neuen Testaments, Berlin 1978, Seite222 – 224
[02] Ernst Käsemann, Das Formular einer neutestamentlichen Ordinationsparänese, Exegetische Versuche und Besinnungen I, 2. Auflage Seite 101 – 108
[03] Grundlegend dazu immer noch: Eduard Lohse, Ordination im Spätjudentum und im Neuen Testament, Berlin 1951
[04] Eine gründliche Erörterung der Frage der Ordination in den Pastoralbriefen in Hermann von Lips, Glaube – Gemeinde – Amt, Göttingen 1979
[05] So Harald Hegermann, Der geschichtliche Ort der Pastoralbriefe, in: Theologische Versuche II, Berlin 1970, Seite 47 – 64
[06] Schenke – Fischer, Einleitung Seite 226